EIN NEUES KAPITEL

Ein Neues Kapitel ist ja oft ein letztes Kapitel
Die Zeit läuft ab, die Welt steht kopf
Die Geschichte ist krank, die Säugetiere sind ratlos
Gott ist es leid
Die Seuchen sind auf dem Vormarsch, die Völker beginnen zu wandern
Die Erde hat Angst
Mensch - sag immer - Mach Dir klar
Daß Du vielleicht bald schon dran bist
Daß vielleicht schon bald Dein Guatemalteke im Vorgarten steht
Und Dein Kurde durch die Hintertür kommt
Um Dich ans Kreuz zu nageln
Denn sie haben lang genug gewartet
Auf das kleine Stückchen Brot das Du achtlos wegwarfst
Und auf eine kleine anständige Behandlung an Leib und Seele

Mach Dir klar - Mensch
Daß der Untergang des Mittagsschläfchens begonnen hat
Karibik auf die Schnelle, seidener Jogginganzug, Klassik im Freien, Lachs mit Pommes
Und immerzu Volksmusik, bis zum letzten Atemzug, wohlmöglich Volksmusik

Das wird bald vorbei sein
Die Reise nach Sodom wirst Du wahrscheinlich leider stornieren müssen
Du hattest doch immer eine Ausrede zur Hand
Ein Bettler war doch immer ein falscher Bettler
Das sieht man doch hast Du gesagt, daß der Bart angeklebt ist
Das sieht man doch an der ganzen Haltung
Die hat er bestimmt stundenlang zuhause vor dem Spiegel eingeübt
Wahrscheinlich hat er um die Ecke einen dicken Wagen stehn
Das sieht man doch, bestimmt sogar
Und begingst Bettlerflucht

Doch diesmal wirst Du nicht weit kommen
Dein schmutziger Himmel wird wie ein Zirkuszelt über Dich fallen
Und Du strampelst darin wie eine alte Fliege im Spinnennet
Du wolltest nicht mit allen Lebewesen gleich sein
Du wolltest immer mehr als alle haben
Du wolltest auch nicht einmal Deine überflüssige Habe mit Vielen teilen
Du hast mit angesehen wie Kinder und Tiere in Mülltonnen geworfen wurden
Du bist nicht aufgestanden und hast Deinen gewählten politischen Damen und Herren
Auf die Finger geklopft, die Türen eingerannt
Sie angefleht, der Grausamkeit ein Ende zu bereiten
Du hast nur immer so getan, als wüßtest Du von nichts - doch alles wußtest Du
Alles von morgens bis abends
Und in der Nacht kamen die Bestien und vergewaltigten die Frauen
Und Du hast nur gedacht  'We furchtbar'
Hast nicht gesagt 'Es ist auch meine Schuld'
Bist nicht herumgelaufen und hast gesagt 'Macht ein Ende'

Ich übrigens auch nicht
Bin auch nicht herumgelaufen und es ist auch meine Schuld
Ich habe auch nicht gesagt 'Macht ein Ende'
Drum los, meinte ich immer, kommen wir nochmal auf die Beine
Bewegen wir uns nochmal, versuchen wir es noch ein einziges Mal
Mit unseren kleinen Waffen, mit unseren wirklich winzigen Mitteln
Mit Wort und Lied Dialog und Dialektik
Dass aus dem Weinen vielleicht wieder Lachen wird
Trost und Versöhnung

Ein Neues Kapitel Kann auch ein Erstes Kapitel sein.
Menschenskind! Und wenn ich auch nichts mehr hörte
Von all diesen furchtbaren Reden und schnellen Begierden
Und eitlen Lügen und falschen Beweisen
Und all dem geschichtlichen Zeugs aus Brunst und Bestechung
Und wollte mich in mein Gehäuse verkriechen
Schweigend und schwierig im Umgang
Und nichts mehr singen und sagen
Gott sitzt in einem Kirschenbaum und ruft die Jahreszeiten weiter aus
Er träumt mit uns den alten Traum vom großen Menschen aus
Wir sind die Kinder die er liebt
Mit denen er von Ewigkeit zu Ewigkeit das Leben und das Sterben übt
Er setzt auf uns, er hofft auf uns
Daß wir uns einmischen, daß wir seine Revolution der Liebe verkünden
Von Haus zu Haus an die Türen nageln, heiß in die Köpfe reden, in die Herzen versenken
Bis die Seele wieder ein Instrument der Zärtlichkeit wird
Und die Zärtlichkeit musiziert und triumphiert
Und die Zukunft leuchtet.

[Text: Hanns Dieter Hüsch]